23. März 2020
Mark Bregenzer und sein Team bringen als Agile Coaches agile Arbeitsmethoden wie Large Scale Scrum (LeSS) in Unternehmen und helfen damit, den digitalen Wandel voranzutreiben. Aber funktioniert das auch remote?
Was bedeutet es für agiles Arbeiten, wenn jetzt fast alle im Home Office sitzen?
Mark Bregenzer: Natürlich ist in einer agilen Welt die direkte Kollaboration und Co-Location am besten. Also Teams, die an einem Tisch zusammensitzen, die sich regelmäßig und ad hoc persönlich austauschen können. Damit wenig Wartezeit entsteht und Probleme schnellstmöglich gelöst werden. Die aktuelle Situation ist daher eine echte Herausforderung - für Unternehmen, Agenturen und Agile Coaches wie uns gleichermaßen. Jetzt zeigt sich, für welche Unternehmen ’’agil’’ nicht nur ein Buzzword ist, denn diese haben es im Moment deutlich leichter.
Inwiefern?
Mark Bregenzer: Unternehmen, die schon länger in Selbstorganisation investiert haben, kommen mit der neuen Situation deutlich besser zurecht. Dort hat das Management bereits gelernt, den Teams mehr Verantwortung zu übertragen und den Mitarbeitenden mehr zu vertrauen. Dieses Vertrauen zahlt sich jetzt aus. Führungskräfte müssen gerade viel Kontrolle aus der Hand geben, weil die Teams verteilt und virtuell miteinander arbeiten. Das fällt vielen nicht leicht. Agilität heißt ja vor allem, flexibel auf neue Rahmenbedingungen zu reagieren und aktiv nach Lösungen zu suchen. Wo das in einer Organisation bereits angekommen ist, wird es weniger Probleme mit der Krise geben.
Funktioniert agiles Arbeiten denn überhaupt virtuell?
Mark Bregenzer: Auf jeden Fall. Allerdings braucht es natürlich zum einen Zeit, um die neuen Abläufe zu etablieren. Zum anderen erfordert es auch zusätzliche Investitionen in die IT und Konzept-Schulungen, denn agiles Arbeiten geht deutlich über reine Videocalls hinaus. Für die Standard Scrum-Meetings reichen oft ein Videocall und ein geteilter Bildschirm aus. Aber im skalierten Kontext mit vielen Teams ist das zu wenig. In großen Produktentwicklungen wie in LeSS (Large Scale Scrum) machen wir zum Beispiel das Product Backlog Refinement – also das Verstehen der Kundenanforderungen und die Definition der dazugehörenden Akzeptanzkriterien – mit bis zu acht Teams parallel. Das müssen wir jetzt online abbilden. Eine reine Video-Konferenz reicht da nicht aus. Virtuelle Kollaborationsräume, in denen gemeinschaftlich an der Erstellung von Arbeitsergebnissen, wie Dokumenten, Designs oder Code gearbeitet werden kann, sind essentiell. Teilnehmende müssen einfach zwischen diesen Kollaborationsräumen hin und her springen können, dann ist agiles Arbeiten auch virtuell möglich. Dies gilt ebenso für Architektur, Design oder andere Workshops in der Produktentwicklung, bei denen viele Mitarbeitende mitwirken müssen.
Die Technik dazu ist bereits da. Das geht von Online-Whiteboards über virtuelle Kommunikationsräume, Multi-Shared Screens bis hin zu integrierten Virtual Reality-Lösungen, die komplette virtuelle Arbeitsumgebungen abbilden und die dort erzeugten Arbeitsergebnisse in die vorhandene Tool-Landschaft überführen. Beispiele sind hier etwa MS Teams, Jira, Confluence oder Mural, aber auch Sococo oder Rumii. Auch Pair Programming ist über virtuelle Channels möglich. Unternehmen, die bereits über Standorte hinweg Continuous Integration leben, sind hier aktuell deutlich im Vorteil.
Bei Valtech wenden wir vieles davon bereits in der Zusammenarbeit über die verschiedenen Standorte der Agentur hinweg und auch international an. Das geht in der Software-Entwicklung natürlich besser, weil dort viele Mitarbeitende aufgeschlossener sind, was neue Technologien angeht. Unsere Prozesse sind fast vollständig digitalisiert, und alle Mitarbeitenden haben eine Home-Office-Regelung unterzeichnet, die die Einhaltung von Mindeststandards für die Arbeits- und Informationssicherheit im Home-Office garantiert. Momentan arbeiten viele Firmen noch daran, genügend gesicherte VPN-Verbindungen herzustellen, um die Datensicherheit zu gewährleisten. Aber auch das wird zu schaffen sein.
Über die verschiedenen Tools kann dann übrigens auch abgelesen werden, was aktuell abgearbeitet wurde. Es gibt also keinen Grund, nervös zu sein, ob die Kolleginnen und Kollegen im Home Office auch tatsächlich genug arbeiten.
Welche Tipps könnt Ihr aus Eurer Remote-Erfahrung noch geben?
Mark Bregenzer: Neben der richtigen Infrastruktur spielt das soziale Miteinander auch virtuell weiter eine große Rolle. Also möglichst mehrmals täglich Synchronisationspunkte über Video anbieten, oder auch ’’Brown Bag Sessions’’, in denen sich die Leute einfach so austauschen können. Zum Beispiel in der Mittagszeit gemeinsam kochen oder essen und sich dabei über Videostreams austauschen. Gleichzeitig ist die Netiquette wichtiger denn je – also ausreden lassen, schnell zum Punkt kommen, Hintergrundgeräusche reduzieren, die Agenda einhalten etc. Eine gute und stringente Moderation ist da sehr hilfreich. Remote arbeiten ist also nicht nur eine Toolfrage, sondern es geht genauso darum, wie wir kommunizieren. Je mehr parallele Kommunikationsstränge wir ermöglichen, wie z.B. Video, Audio, Chat und online Whiteboards, desto besser funktionieren Kommunikation und Kollaboration.
Was empfehlt Ihr Unternehmen konkret?
Mark Bregenzer: Wir stehen speziell als Agile Coaches vor der Herausforderung, die notwendigen Praktiken remote zu vermitteln. Einen kulturellen Arbeitswandel nur über digitale Kanäle zu vermitteln und voranzutreiben, ist natürlich schwieriger. Sofern es die wirtschaftliche Situation der Unternehmen zulässt, sollten sie jetzt nicht aufhören, ihre digitale Transformation weiter voranzutreiben. In keinem Fall sollten sie in alte Muster zurückfallen. Diese neue Situation bietet Chancen. Das bedeutet aber auch, dass einige Unternehmen mittelfristig sogar Überkapazitäten in der IT-Infrastruktur aufbauen müssen. Auch hier gilt: Je flexibler die IT-Infrastruktur genutzt werden kann, desto flexibler kann eine Organisation auf Unvorhergesehenes reagieren.
Lohnen sich diese Anstrengungen für Unternehmen denn langfristig?
Mark Bregenzer: Da Virologen sagen, dass uns die Corona-Krise noch eine Weile beschäftigen wird und in Zukunft weiter mit Pandemien oder auch anderen globalen „Störgrößen“ zu rechnen ist, werden sich Investitionen mittelfristig sicher auszahlen. Global agierende Unternehmen werden zukünftig auch, bei lokal begrenzten Krisen, die Auswirkungen im Gesamtunternehmen schmerzhaft spüren, wenn es den IT-Abteilungen nicht gelingt, die Mitarbeiter produktiv zu halten. Zur Aufgabe der kontinuierlichen Bereitstellung der Systeme kommt nun die Sicherstellung kollaborativer und digitaler Arbeitsweisen hinzu. Die funktionierende technische Agilität ist die Voraussetzung für gelungene Agilität im Business. Wer Agilität und damit Flexibilität als Organisation wirklich lebt, für den werden solche Phasen kein Showstopper in Sachen Digitalisierung und Wachstum sein, sondern sogar eher ein Beschleuniger.